Dienstag, 4. Januar 2011

Interpretation Teil III, Kapitel 2

In dem Roman "Der Vorleser" von Bernhard Schlink aus dem Jahr 1995 geht es um die Beziehung zwischen einem jungen Mann und einer einundzwanzig Jahre älteren Frau, Michael und Hanna. Beim ersten Lesen könnte man annehmen, dass Schuld in dem Roman eine zentrale Rolle spielt und dass die Beziehung zwischen Hanna und Michael Auswirkungen auf das gesamte Leben Michaels hat. Diese Fragen werden im Folgenden näher untersucht.

Der Roman der "Vorleser" von Bernhard Schlink handelt im ersten Teil davon, dass Michael Hanna aufgrund seiner Krankheit zufällig kennenlernt und schon bald, trotz des großen Altersunterschieds, eine Beziehung mit ihr führt. Dabei spielen bestimmte Rituale, wie vorlesen, baden, miteinander schlafen und danach aneinanderliegen eine große Rolle und werden häufig wiederholt.
Eines Tages will Michael Hanna bei ihrer Arbeit als Straßenbahnschaffnerin besuchen, was aber zum Streit führt, weil er in den hinteren Wagon einsteigt und Hanna ihn nicht beachtet. Weitere Situationen, die die Beziehung belasten, finden auf dem Fahrradausflug, den Michael an Ostern organisiert, und im Schwimmbad statt. Daraufhin zieht Hanna aus ihrer Wohnung aus und verlässt die Stadt.
Nach seiner Schulzeit studiert Michael Jura und nimmt im zweiten Teil des Romans an einer Gerichtsverhandlung zum KZ-Prozess teil, wo er Hanna begegnet, die angeklagt ist. Ihr wird vorgeworfen, als Aufseherin zur SS gegangen zu sein, Frauen aus einer brennenden Kirche nicht gerettet und Selektionen durchgeführt zu haben. Außerdem soll sie schwache Mädchen, die ihr vorlasen, in Schutz genommen haben. Als Hanna eine Schriftprobe abgeben soll, findet Michael heraus, dass sie Analphabetin ist, worauf er mit seinem Vater redet, weil er nicht weiß, ob er dies dem Richter mitteilen soll. In einer der folgenden Wochen fährt Michael in ein KZ ins Elsaß, um sich ein Bild von den Grausamkeiten zu machen und beschließt, Hannas Analphabetismus geheim zu halten, worauf sie lebenslang verurteilt wird.
Im dritten Teil sind Michaels Gedanken und Gefühle durch das Geschehene betäubt und er lernt auf einer Skihütte Gertrud kennen, welche er heiratet und mit welcher er ein Kind bekommt. Diese Ehe endet jedoch schon nach kurzer Zeit mit der Scheidung. Außerdem stellt Michael sich die Frage, ob er auch schuldig ist, weil er Hanna geliebt hat, obwohl sie eine Verbrecherin ist.

Das zweite Kapitel des dritten Teils ist in zwei Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt (S. 164, Z. 1 - S.165, Z. 27) handelt davon, dass Michael erzählt, dass er Gertrud auf einer Skihütte kennengelernt hat. Als Gertrud mit Julia schwanger ist, heiraten sie. Michael hat Gertrud nie von Hanna erzählt, weil er dachte, sie wolle nichts von vorherigen, gescheiterten Beziehungen wissen. Nach kurzer Zeit wird die Scheidung eingereicht, weil Michael Gertrud immer mit Hanna vergleicht und ein Gefühl verspürt, dass irgendwas an Gertrud falsch sei. Michael fühlt sich schuldig, weil er, wegen der Scheidung seiner Tochter Julia Geborgenheit verweigert hat.
Im zweiten Handlungsabschnitt (S. 165, Z. 28 - S. 166 Ende) geht es darum, dass auch die späteren Beziehungen von Michael gescheitert sind, obwohl er sich eingestanden hat, dass diese der Beziehung zu Hanna ähneln sollten. Er versucht, seinen folgenden Lebensgefährtinnen von Hanna zu erzählen, gibt es aber wieder auf, weil er bei ihnen nur auf Unverständnis und Desinteresse stößt.

Michael wird in diesem Kapitel als sensibel und verletzlich dargestellt, weil es ihn sehr berührt hat, wenn er Julia nach einem Besuch zurücklassen musste und sie ihn dabei traurig angesehen hatte, was man an "wenn ich ging und sie aus dem Fenster sah und ich unter ihrem traurigen Blick ins Auto stieg, brach es mir das Herz" (S. 165, Z. 20ff.) erkennt.
Michael vergleicht seine Tochter mit einem "Fisch im Wasser" (S. 165, Z. 13), weil sie keinen Halt im Leben und eigentlich keine feste Bezugsperson hat. Außerdem könnte man annehmen, dass "Geborgenheit verweigerten" (S. 165, Z. 10) ein Euphemismus dafür ist, dass Michael und Gertrud ihre Tochter total vernachlässigt haben.
Desweiteren deutet es darauf hin, dass Michael ein unsicherer Mensch ist, weil er Gertrud nichts von Hanna erzählt hat ("Wer will, dachte ich, von den früheren Beziehungen des anderen hören, wenn er nicht deren Erfüllung ist?", S. 164, Z. 9 ff.). Dieses Zitat stellt eine rhetorische Frage dar, welche in diesem Kapitel eingesetzt werden, um die Unsicherheit Michaels zu verdeutlichen.
Außerdem wird Michael als nicht selbstbewusst dargestellt. weil er das Erzählen von Hanna in späteren Beziehungen doch wieder aufgibt und nicht zu seiner Vergangenheit steht, weil er die Geschehnisse verschweigt. Dies kann man an "so gab ich das Erzählen wieder auf." (S. 166, Z. 17 ff.) und "Weil die Wahrheit dessen, was man redet, das ist, was man tut, kann man das Reden auch lassen." (S. 164, Z. 18 f.) erkennen.
Gertrud wird als "gescheit, tüchtig und loyal" (S. 164, Z. 11 f.) dargestellt und Michael sagt, dass sie zusammen auch einen Bauernhof hätten führen können (S. 164, Z. 13 ff.). Nach der Beschreibung von Michael kann man annehmen, dass Gertrud Hanna nicht sehr ähnlich war.
Die folgenden Beziehungen mit Helen, einer amerikanischen Literaturwissenschaftlerin, mit Gesina, einer Psychoanalytikerin, und Hilke, einer Zahnärztin, sind gescheitert, weil diese kein Interesse oder kein Verständnis dafür hatten, dass Michael ihnen von Hanna erzählt hatte.

Die erzählte Zeit ist größer als die Erzählzeit, das heißt es liegt eine Zeitraffung vor. Dies bewirkt, dass verdeutlicht wird, dass die Auswirkungen der Beziehung zu Hanna Michaels gesamtes Leben begleiten werden und er keine richtige Beziehung führen kann.

Der Auszug des Romans (Teil III, Kapitel 2) ist in der Ich-Form geschrieben und Michael erzählt als erinnerndes Ich. Die Erzählform ist auktorial, weil Michael rückblickend reflektiert und resümiert, sich selbstkritisch hinterfragt (S. 164, Z. 9 ff.) und Distanz zum Erlebten hat.

In diesem Kapitel liegen teilweise sehr kurze, einfache Sätze vor, wie zum Beispiel "Ich habe als Referendar geheiratet." (S. 164, Z. 1), aber es kommen auch lange, verschachtelte Sätze, wie "Sie begriff lange nicht, was Scheidung bedeutet, und wollte, wenn ich zu Besuch kam, daß ich bleibe, und wenn sie mich besuchte, daß Gertrud mitkommt." (S. 165, Z. 17 ff.), vor.
Die Wortwahl ist in diesem Kapitel eher nüchtern und sachlich, was daran liegt, dass Michael eine distanzierte Erzählhaltung hat.

Die Konsequenzen der Beziehung zwischen Hanna und Michael für das gesamte Leben Michaels sind, dass er alle darauffolgenden Beziehungen mit der zu Hanna vergleicht ("Ich habe nie aufhören können, das Zusammensein mit Gertrud mit dem Zusammensein mit Hanna zu vergleichen", S. 164, Z. 19 f.). Dies bewirkt, dass er keine richtige Beziehung führen kann, weil er sich nicht mehr für neue Menschen öffnen kann und immer an Hanna erinnert wird, auch wenn er denkt, er habe mit seiner Vergangenheit abgeschlossen.
Michael hat häufig "das Gefühl, daß es nicht stimmt, daß sie nicht stimmt" (S. 165, Z. 1) und vergleicht auch seine Sinneseindrücke, wie Fühlen, Geruch und Geschmack, mit denen von Hanna, was wieder deutlich macht, dass er in seinen Gedanken noch immer bei ihr ist und nicht richtig loslassen kann.
Eine weitere Konsequenz könnte sein, dass Michael sich schuldig fühlt, weil er eine Verbrecherin geliebt hat ("Aber der Fingerzeig auf Hanna wies auf mich zurück. Ich hatte sie geliebt", S. 162).
Außerdem könnte Michael sich schuldig fühlen, weil er dem Richter nicht mitgeteilt hat, dass Hanna Analphabetin ist, obwohl er so verhindern hätte können, dass Hanna verurteilt wird. Desweiteren könnte man es als eine Konsequenz sehen, dass Michael immer die Schuld auf sich nimmt, weil er es so in der Beziehung mit Hanna gelernt hat. Dies könnte ihm ebenfalls irgendwann zum Verhängnis werden, weil er sich manchmal damit selbst benachteiligt oder es vorkommen kann, dass andere Menschen dies ausnutzen.

Damit kann die Deutungshypothese, dass Schuld eine zentrale Rolle spielt und dass die Beziehung zwischen Hanna und Michael Auswirkungen auf Michaels gesamtes Leben hat, bestätigt werden, da er sich schuldig fühlt, weil er Hanna geliebt hat und weil er jede andere Lebensgefährtin mit Hanna vergleicht und deshalb keine richtige Beziehung führen kann.
Der Autor möchte mit dem Roman aussagen, dass jeder auf irgendeine Weise Schuld trägt und dass eine Beziehung Auswirkungen, egal ob positiv oder negativ, auf das gesamte Leben haben kann.
Ich finde den Roman "Der Vorleser" von Bernhard Schlink gut, weil gezeigt wird, dass die Erinnerung an einen geliebten Menschen immer bleiben wird, auch wenn er Schlechtes getan hat und man dadurch selbst einer psychischen Belastung ausgesetzt ist. Aus diesem Grund würde ich den Roman "Der Vorleser" jederzeit weiterempfehlen.

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