Samstag, 8. Januar 2011

Interpretationsaufsatz - Der Vorleser: Seite 137-139

 Der Roman "Der Vorleser" von Bernhard Schlink aus dem Jahr 1995 handelt von einer sehr speziellen Beziehung zwischen den beiden Protagonisten Hanna und Michael, der eine Entwicklung vom naiven, unerfahrenen Jungen zum erwachsenen, gebildeten Juristen durchlebt. Auf diesem Weg stellt sich oft die Frage, ob er die Verantwortung für Hanna übernehmen soll, da sein Verhalten, sowohl für ihn als auch für sie, immer Konsequenzen hat.

Im ersten Teil des Romans lernt Michael Hanna kennen und hat sofort ein Auge auf sie geworfen. Um ihr zu helfen kümmert er sich um die Kohlen, wobei er sich beschmutzt. Sie lässt ihm ein Bad ein und verführt ihn das erste Mal.
Es entsteht eine eigenartige Beziehung mit einem Ritual: Vorlesen, duschen, lieben, beieinanderliegen. Sie sind sich währenddessen ganz nahe und vertraut, sonst aber kommt es oft zu Missverständnissen und Streit.
Aus Angst Hanna zu verlieren nimmt Michael dann alle Schuld auf sich, damit sie sich wieder versöhnen, obwohl der oft nicht einmal das Problem versteht.
Im neuen Schuljahr lässt die Liebe immer mehr nach. Zwar erniedrigt und entschuldigt er sich weiterhin vor Hanna, hasst es aber immer mehr bis er sie verleugnet und verrät, indem er sich in der Öffentlichkeit nicht zu ihr bekennt. Er fühlt sich schlecht und schuldig.
Eines Tages ist sie ohne Vorwarnung verschwunden.
Michael fällt es schwer sie loszulassen und um über sie hinweg zu kommen stürzte er sich im zweiten Teil des Romans in die Arbeit. Deshalb schafft er das Abitur, sowie auch das Jurastudium, ohne Probleme.
In einem KZ-Prozess, den er wegen eines Seminars besucht, trifft er Hanna, die als SS-Aufseherin angeklagt ist, wieder. Sie wird von den Mitangeklagten, die in ihr ein Opfer gefunden haben, als Haupttäterin dargestellt, um sich selbst zu entlasten. Sie nutzen Hannas Verhalten aus und auch ihr Verteidiger hilft ihr in dieser Situation nur wenig.
Michael denkt viel über den Prozess nach, was dazu führt, dass bei ihm wieder das Motiv der Schuld auftaucht, da der eine Mörderin geliebt hat. Aber bei den vielen Gedanken und Erinnerungen wird ihm auch einiges klar: Hanna ist Analphabetin und kann damit auf keinen Fall die Hauptschuldige sein.
Mit einer Aussage könnte er ihr Strafe mildern, allerdings würde er auch ihre Schutzmauer, die sie über viele Jahre aufgebaut hat, durchbrechen und sie der Bloßstellung aussetzen.

In dem Abschnitt von Seite 137-139 erinnert Michael sich an das Gespräch mit seinem Vater.
Diese Textstelle besteht aus zwei Teilen, von denen der erste von S. 137 Z. 1 bis S. 138 Z. 24 geht. Sie handeln von den Ansichten und dem Verhalten des Vaters, denn Michael weiß nicht weiter. Soll er Hannas Urteil nun beeinflussen indem er eine Aussage macht, oder soll er einfach nur zusehen und ihr die Entscheidung selbst überlassen, dann würde sie allerdings eine sehr harte und ungerechte Strafe erwarten?
Zu seinem Vater hat er nie eine richtige Beziehung, erhofft sich aber dennoch Hilfe und Rat in dieser Situation. Die Metapher "Bodensatz der Erinnerung" (S. 137 Z. 3) verdeutlicht, wie weit er das Gespräch, welches er im Nachhinein als einen der wenigen glücklichen Momenten mit seinem Vater ansieht, verdrängt hat, was wiederum auf die vernachlässigte und schlechte Vater-Sohn-Beziehung schließen lässt.
Während sie sich unterhalten, wird dem Leser die ganze Zeit deutlich, wie fremd sich die beiden Männer sind, die sich eigentlich so nahe stehen sollten, was vor allem durch das Verhalten von Michael klar wird. Er überlegt genau was er sagt, bevor er antwortet und redet nicht einfach sofort los um zu sagen was er denkt und fühlt. Der Autor verwendet dafür rethorische Fragen, welche die Mauer, die zwischen Vater und Sohn steht noch dicker wirken lassen ("Erleichternd? Beruhigend? Angenehm?" S.137 Z. 18f). Der ganze Absatz von Zeile 17-22 auf Seite 137 spiegelt die Unsicherheit des jungen Mannes gegenüber seinem Vater wieder und auch die Angst, sich falsch auszudrücken oder etwas, in den Augen des Vaters, falsches zu sagen.
Wegen der Erzählform des personalen Erzählers in diesen Zeilen werden die Gedanken und Absichten, in einem inneren Monolog, noch direkter an den Leser übermittelt.

Er fragt seinen Vater und bittet ihn um Hilfe, weil er eine neutrale Meinung zu seinem Anliegen haben möchte und erhofft sich von diesem Gespräche eine schachliche und distanzierte Antwort. Aus diesem Grund sieht er ihn bei diesem Gespräch nicht als Familienangehörigen oder als Freund, sondern als Philosophen. Dies fällt ihm allerdings zu dieser Zeit nicht schwer, denn sein Vater hat scih selbst immer emotional aus der Familie zurückgezogen, was von der auktorialen Erzählweise bestätigt und unterstrichen wird. Michael hat bis nach dem Tod immer alle Gedanken an seinen Vater, das Gespräch und das fehlende Verhältnis verdrängt und kann erst danach mit den Erinnerungen eine Beziehung zu ihm aufbauen, jetzt denkt er aber "gerne an dieses Gespräch zurück" (S.13 Z.1).
Der Vater konzentriert sich ganz auf seine Philosophenrolle, und sagt deshalb als Professor, dass Michael auf keinen Fall dem Richter von Hannas Analphabetismus erzählen dürfe.
Sein Verhalten zeigt, dass er über Michael steht, die Rollen also klar verteilt sind und mehr Erfahrung und Wissen in diesem Bereich hat. Er ist von sich überzeugt und ist der Meinung, dass sich Michael an seinen Rat halten müsse. Auf seine Antwort hin, dass Michael nicht mit dem Richter sprechen dürfe, empfindet der Junge ein Gefühl was er aber nicht ausspricht und sein Vater korrigiert ihn sofort wenn er, wie in diesem Fall, nur einen unangebrachten oder, seiner Meinung nach, unpassenden Gedanken hat ("'Angenehm?' schlug mein Vater vor. Ich nickte [...] 'Nein, dein Problem hat keine angenehme Lösung...'" S. 137 Z. 23-25). Auch dies lässt auf ein gestörtes Vater-Sohn-Verhältnis schließen.
Die Metapher auf Seite 137 in der Zeile 30 ("die Augen zu öffnen"), soll Michael sagen, dass er zwar keine Aussage machen dürfe, aber trotzdem mit Hanna reden müsse. Sie drückt aber auch aus wie sehr der Vater ihn zum Handeln drängt und wie er ihm seine Meinung aufdrücken will.
Auf Seit 138 taucht wieder der innere Monolog von Michael auf. Er reicht von Zeile 4-19. Zuerst stellt er sich selbst Fragen, welche ausdrücken wie groß die Probleme sind, die er mit der Antwort des Vaters hat. Seine Unsicherheit und seine Angst vor dem Gespräch, welches er mit der Frau führen soll, die ihm jetzt so fremd vorkommt, ist so groß und er traut sich trotzdem nicht seinem Vater davon zu erzählen und seine Gedanken laut auszusprechen. Durch die personale Erzählweise bekommt der Leser einen Eindruck von seiner inneren Verfassung die er von Zeile 13-19 auch sehr deutlich formuliert. Dem Leser wird sofort unmissverständlich klar in was für einer hilflosen Lage er sich befindet.

Ab Zeile 25 auf Seite 138 beginnt der zweite Teil dieses Abschnitts. Ab dieser Stelle wird dem Vater klar, dass er seinem Sohn nicht wirklich helfen konnte ("'Ich habe dir nicht helfen können'" S. 138 Z. 25) und sieht ihn das erste Mal nicht nur als Klienten sondern als seinen eigenen Sohn. "'Als Vater [findet er] die Erfahrung, [seinen] Kindern nicht helfen zu können, schier unerträglich'" (S. 138/139 Z. 30ff). Man merkt an der Reaktion von Michael, die man wieder durch den personalen Erzähler so deutlich erfährt, dass er das Gefühl, dass sich sein Vater der Familie emotional öffnet nicht kennt, sein Vater es also an diesem Punkt das erste Mal tut.
Dennoch hätte Michael in diesem Moment mehr von ihm erwartet ("Ich fand, er mache es sich leicht;..." S. 139 Z. 3f) und ist sehr enttäuscht von seinem Vater, der zwar einen Versuch startete eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen, aber dann sofort wieder dicht macht, den Versuch abbricht und sich wieder in seine eigene Welt verzieht, die Welt ohne Familie und ohne Michael.
Die Mauer, die jetzt schon wieder massiv zwischen den Beiden steht, und die man als Leser in diesem Abschnitt so oft gesehen hat, ist im Laufe der Jahre so dick geworden, dass der Vater auch jetzt nicht hindurchdringt. Michael schenkt den Floskeln, was die wenigen wohlwollenden Worte des Vaters für ihn sind, keinen Glauben und auch der Abschied nach diesem so wichtigen Gespräch fällt sehr flach aus ("Ich glaubte ihm nicht und nickte" S. 139 Z. 13).
Für Michael ist in der Vergangenheit zu viel geschehen, als dass es für ihn, mit dieser kurzen Einsicht seines Vaters, erledigt wäre und kann deshalb die plötzliche, unerwartete Zuneigung nicht ernst nehmen.

Michaels Angst eine Aussage zu machen, hat für Hanna die Konsequenz einer lebenslangen Haftstrafe (Seite 156), was sie aber, ohne zu protestieren annimmt. Michael kann sie nie ganz vergessen und sehnt sich noch immer nach ihr. Auch seine zukünftigen Freundinnen vergleicht er mit ihr. Vielleicht wäre es ihm leichter gefallen mit ihr abzuschließen, wenn er damals, während dem Prozess, eine Aussage gemacht hätte oder wenigstens den Rat des Vaters befolgt hätte, und mit Hanna geredet hätte um ihr "die Augen zu öffen" (S. 137 Z. 30).
Ihn lässt das Gefühl der Schuld nie los.
Die Vergangenheit fesselt ihn so sehr, dass er Hanna Kassetten ins Gefängnis schickt, auf denen er vorließt, wie früher. Dies hat zur Folge, dass sie ihrer Schwäche des Analphabetismus endlich ins Auge sieht. Sie leiht sich die Bücher aus, welche Michael auf Band aufgenommen hat und lernt auf diese Weise lesen und schreiben.
Während der langen Zeit im Gefängnis hat sie sich sehr zurückgezogen und "gelebt wie im Kloster" (S. 196 Z. 12). Wäre die Strafe nicht so hart ausgefallen, wäre ihr vielleicht nie bewusst geworden, dass viele Taten mit ihrem Analphabetismus verbunden sind und wie viel sie falsch gemacht hat. Sie gewinnt in dieser Zeit sehr viel Verständnis und Einsicht. Am Ende ihrer Haftstrafe bringt sie sich selbst um und vermacht ihr gesamtes Geld Michael, der es den Überlebenden der Bombennacht geben soll, was auch aus ihrer Einsicht resultiert.

Michael hat sich weder an den Richter gewendet und eine Aussage gemacht, noch mit Hanna gesprochen, wie sein Vater es ihm geraten hat. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn trägt auch nicht positiv dazu bei, dass Michael ehrer auf ihn hört und sich seinen Rat wirklich zu Herzen nimmt. Die ganze Textstelle zeigt dies vor allem durch die Erzählformen, und lässt den Leser sehr klare Schlüsse ziehen. Als Philosophen respektiert er ihn zwar, aber als Vater versagt er auf ganzer Linie, weshalb Michael ihm nicht vertraut.

Ich finde das Verhältnis zwischen Vater und Sohn, welches in dem ganzen Abschnitt zum Ausdruck kommt, sehr merkwürdig, da es nicht das typische Familienbild darstellt. Die Aussagen des Vaters jedoch finde ich sehr gut und auch richtig. Wenn Michael auf seinen Vater gehört hätte, und mit Hanna gesprochen hätte, würde er ihr ein Teil der Verantwortung abnehmen, sie allerdings nicht bloßstellen. Dies wäre zu seinem und zu ihrem Vorteil, denn er könnte ihr den richtigen Weg zeigen und würde selbst von den Schuldgefühlen, welche er auf Grund seines Verhaltens während des Prozesses ewig mit sich herumträgt, loskommen.
Ich bin sicher, dass der Vater, wenn er das Verhältnis zu seinem Sohn besser gepflegt hätte, eher zu ihm durchgedrungen wäre und ihm somit die Angst vor dem Gespräch mit Hanna hätte nehmen können.

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