Sonntag, 28. November 2010

Stellungnahme Michaels in der Prozesspause

Ich habe mich aus gutem Grund dafür entschieden nun doch auszusagen, obwohl es mich viel Überwindung gekostet hat. Hanna und ich standen uns einmal sehr nahe. Wir haben viel miteinander unternommen, jedoch nie viel über unsere Vergangenheit, über Gefühle oder über persönliche Dinge geredet, weshalb ich während dieser Zeit der Gemeinsamkeit nie von ihrem Analphabetismus wusste. Sie hat mir zwar auch später nie von ihrer Unfähigkeit, was das Lesen und Schreiben betrifft, erzählt, allerdings lässt sich dies aufgrund vieler Ereignisse erschließen. Im nachhinein wird mir vieles klar und ich kann mir die Geschehnisse und ihr Verhalten, was mir damals oft merkwürdig erschienen, erklären.

Natürlich ist mir von Anfang an klar, dass Hanna nicht unschuldig ist und dass es auf keinen Fall gerecht wäre sie komplett von der Schuld freizusprechen, aber sie ist nicht die Hauptschuldige als die sie von den anderen vier Angeklagten und deren Verteidigern dargestellt wird.
Mir liegt es sehr am Herzen dieses Missverständnis, welches wegen ihrer Angst davor, dass andere Menschen etwas erfahren könnten, aufgekommen ist, aufzuklären. Ich sehe in meiner Aussage die einzige Chance Hanna einen neuen Weg zu zeigen und ihr so zu helfen ihr Leben neu auszurichten indem sie es als Neustart sieht und das Lesen und Schreiben erlernt.
Hanna wird vorgeworfen freiwillig zur SS gegangen zu sein (Seite 91-92) was sich auch nicht abstreiten lässt, sie hatte aber im Vergleich zu den anderen einen starken Grund der sie dazu trieb. Sie sah keinen anderen Ausweg und ist ihr ganzes Leben vor Beförderungen geflohen um der Bloßstellung zu entkommen. Sie hatte immer eine sehr große Angst davor, dass ihre Schwäche aufgedeckt wird und deshalb ist es mir auch besonders schwer gefallen mich davon zu überzeugen, dass es richtig ist auszusagen, da sie mir noch immer viel bedeutet.
Ein anderer Anklagepunkt war, dass sie in der Bombennacht, bei welcher nur zwei der Gefangenen überlebten, die Türen der Kirchen nicht aufgeschlossen hat (Seite 102f). Die anderen Angeklagten stellen sie als Hauptschuldige dar, was allerdings von niemand anderem bestätigt werden kann. Die vier Frauen haben in Hanna das Opfer gefunden um ihre eigene Schuld zu vermindern. Deshalb haben sie auch behauptet, dass Hanna das Protokoll der besagten Nacht geschrieben haben soll, was aufgrund ihres Defizits nicht möglich ist.
Im Lager hat Hanna keinesfalls ihre eigene Selektion betrieben (Seite 111-112). Sie hat kleine und schwache Mädchen zu sich geholt die ihr vorgelesen haben. Diese Mädchen hat sie bevorzugt und ihnen das Leben, oder besser gesagt, den Rest ihres Lebens im Lager so angenehm wie möglich gestaltet. Auch ich habe ihr früher oft vorgelesen und kann deshalb aus eigener Erfahrung berichten, dass sie mich immer sehr liebevoll und fürsorglich behandelt hat. Ich glaube sie wollte ihren Vorleserinnen nichts Böses und wollte sie auch nicht selektieren, dies sah nur für Außenstehende so aus.
Da die mitangeklagten Frauen im Prozess offensichtlich zusammenhalten und versuchen ihre Strafen in Grenzen zu halten, hatte Hanna von Anfang an einen Nachteil vor den Richtern. Sie konnte sich gar nicht, wie die anderen, sorgfältig auf den Bericht vorbereiten, da sie weder ihr Anklageprotokoll, noch das Manuskript des Buches, welches eine der zwei Überlebenden geschrieben hat, lesen konnte und dies nicht mit ihrem Verteidiger besprechen und auch nicht im Vorfeld, Fehler bei dem Gericht korrigieren konnte. Hanna war die ganze Zeit die einzige Angeklagte die ehrlich alle Taten zugab, die sie begangen hatte und auch allen Schuldzuweisungen widersprach die fälschlicherweise ihr zugeschrieben wurden. Dies spielte wiederum den anderen ehemaligen Aufseherinnen  und deren Verteidigern in die Karten, und sie legten es zu ihrem Vorteil aus.

Mein Fazit ist, dass es nicht gerecht wäre Hanna die Hauptschuld an allen Verbrechen zu zusprechen. Sie hat zumindest die Chance verdient die Anklage und Schuldzuweisungen richtig zu stellen. Die Richter sollten sich ihre Version der Geschehnisse mit dem Hintergrundwissen, dass sie Analphabetin ist, genau anhören und ein gerechtfertigtes Urteil fällen, womit nur die Taten bestraft werden, die sie auch wirklich begangen hat und nicht auch die, welche ihr von den Frauen in die Schuhe geschoben wurden.

1 Kommentar:

  1. Eine gelungene Stellungnahme! Im Gegensatz zu Verteidigung und Anklage war eure Stellungnahme etwas schwieriger, da Michael an diesem Punkt weder Hanna anklagen noch verteidigen möchte, sondern möchte, wie du das auch gut formuliert hast, dass ihr Gerechtigkeit widerfährt und sie nicht weiterhin als Hauptangeklagte angesehen wird.
    Der Punkt zur "persönlichen Selektion" hätte ich noch um die Tatsache erweitert, dass die Mädchen, welche Hanna auswählte, ohnehin als nächstes ins KZ gekommen wären, da sie bereits so schwach waren. Das stellt die Auswahl nochmal in ein anderes Licht, bzw. verdeutlicht das Vorgehen Hannas. Eine Selektion bleibt es trotzdem, jedoch mit guten Absichten.

    Ansonsten eine ordentliche Arbeit!

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